Murnaus Film gehört zu den bedeutendsten künstlerischen Leistungen des Kinos in der Weimarer Republik, darüber hinaus zu den wenigen deutschen Filmen der zwanziger Jahre, die auch im europäischen Ausland und in den USA zu einem geschäftlichen Erfolg wurden. In die Geschichte der filmischen Innovationen ist „Der letzte Mann“ als ein besonderer Glücksfall eingegangen, dessen Entstehung sich der guten Zusammenarbeit des Ufa-Teams unter Produktionschef Erich Pommer verdankt; maßgeblichen Anteil an der visuellen und poetischen Kraft dieses Films hatten außer Murnau vor allem Carl Mayer als Drehbuchautor, der Kameramann Karl Freund und die Filmarchitekten Robert Herlth und Walter Röhrig. Als Musterbeispiel des deutschen „Großstadtfilms“ erregte er bezeichnenderweise gerade in Hollywood Aufsehen und Bewunderung - die amerikanischen Spezialisten erkundigten sich telegrafisch in Berlin, mit welcher Kamera gedreht worden sei und wo überhaupt eine urbane Szenerie wie in „Der letzte Mann“ existiere. Sie waren verblüfft, als sie erfuhren, daß sämtliche Szenen, auch die Außenaufnahmen, in den Kulissen und auf dem Gelände der Ufa in Babelsberg entstanden waren.
Die Produktion des Films fiel zeitlich mit dem Beginn einer - freilich trügerischen - Konsolidisierungsphase der Weimarer Republik und eines zaghaften wirtschaftlichen Aufschwungs nach der Depression der frühen Nachkriegsjahre zusammen. Trotz gewisser ästhetischer Merkmale, die ihn noch mit den Ekstasen des „expressionistischen“ Kinos und den Alpträumen der Caligari-Ära verbinden, weist die soziale Thematik des Films bereits auf jenes neue Interesse an der Realität und am realistischen Erzählen, das wenig später die Literatur und den Film der „neuen Sachlichkeit“ kennzeichnen wird. Die Unterströmungen der Republik werden in gesellschaftlichen Typen erfaßt - so steht dem „wilhelminischen“ Typ des Portiers mit seinem dichten Backenbart und seiner Uniformseligkeit bereits der moderne Hotelmanager mit seinem kühlen Effizienzdenken gegenüber.
Mit Recht wurde die gesellschaftliche Ausmusterung des von Emil Jannings gespielten alten Hotelportiers daher auch als Abschied von der Vätergeneration gedeutet, als Metapher für einen genetischen und gesellschaftlichen Bruch, der in Deutschland von den progressiven Kräften zwar angestrebt, aber nicht erreicht wurde - wenn man etwa die Kontinuität zwischen Ludendorff als Repräsentanten des preußischen Obrigkeitsstaats und dem 1925 gewählten Reichspräsidenten Hindenburg in Betracht zieht. Dieser Deutung steht keineswegs entgegen, daß Murnau den alten Portier mit viel Sympathie gezeichnet hat: hier deutet sich ein soziales Verständnis, auch soziales Mitgefühl an, das sich den Alltagserfahrungen der Republik, den Hinterhöfen und Elendsquartieren der zwanziger Jahre verbunden weiß.
Der linear und mit unaufhaltsamer Konsequenz erzählten Geschichte vom sozialen Abstieg eines Uniformträgers haben die Autoren - möglicherweise auf Betreiben der Ufa-Leitung - einen „zweiten Schluß“ hinzugefügt, der die Ausweglosigkeit des Dramas wohl dementieren soll, sie indessen „subversiv“ bestätigt. Drehbuchautor Carl Mayer hat für diese überraschende Wendung den einzigen Zwischentitel des Films geschrieben: „Hier sollte der Film eigentlich enden. Im wirklichen Leben würde der unglückliche alte Mann noch kaum etwas anderes zu erwarten haben als den Tod. Doch der Drehbuchautor hatte Mitleid mit ihm und sah ein fast unwahrscheinliches Nachspiel vor.“ Dem zum Toilettenwärter degradierten Portier fällt das Erbe eines amerikanischen Millionärs zu - plötzlich sehen wir den Erniedrigten und Beleidigten in der Rolle eines neureichen Verschwenders wieder, der sich in eben jenem Hotel vergnügen darf, das ihn zuvor um sein Selbstwertgefühl gebracht hatte. Die Gestaltung hält diese Szene bewußt in der Schwebe zwischen Traum und Alptraum, einem naiven Märchen und kruder Wirklichkeit - und ihre Ironie wurde von den meisten Kritikern verstanden. Lotte H. Eisner allerdings sah in dieser doppeldeutigen Wendung zum „Positiven“ eine ebenso platte wie schwerfällige Konzession an den „Ufa-Stil“.
Die authentische Erzählinstanz dieses Films ist - wohl erstmals im deutschen Kino - die Kamera: Sie entdeckt die Welt, die Qualität der Bewegung, die psychischen Regungen der Menschen und die symbolische Bedeutung der Dinge für unsere Augen neu. Die Welt der Gegenstände entwickelt eine Zeichensprache, die uns Murnau mit Hilfe seines genialen Kameramanns Freund entziffern läßt. Alles ist Wirklichkeit und zugleich eine transparente, mit Bedeutungen aufgeladene „zweite Realität“: die Hotelhalle und das Milieu der Hinterhöfe, die Großstadtstraße im Regen mit ihren Taxis und dahinhastenden Menschen ebenso wie die letzte Station in der Leidensgeschichte des alten Portiers, die Herrentoilette im Souterrain des Hotels. Die Drehtür - ein visuelles Leitmotiv des Films - verbindet als ein Moment unablässiger Bewegung Innen und Außen, die Hotelhalle mit dem Leben der Straße; zugleich trennt sie die Menschen voneinander, die blick- und interesselos aneinander vorübergleiten. Der „Fluß des Lebens“ in der großen Stadt, aber jedes einzelne Leben ist von Entfremdung gezeichnet. Die Kamera sieht und „weiß“ mehr von diesem Leben als die Menschen, die in seine Alltäglichkeit verstrickt sind.
Die bedeutende filmästhetische Qualität von „Der letzte Mann“ ist nicht zuletzt der „entfesselten“, vom Stativ befreiten Kamera zuzuschreiben, die Karl Freund hier zum ersten Mal technisch entwickelt und angewandt hat. Die Kamera - nach Murnau der „Zeichenstift“ des Filmregisseurs - beobachtet nicht, wie bis dahin üblich, aus einer starren Position ein bewegtes Geschehen, sie folgt vielmehr der Bewegung des Objektes, und auf den Höhepunkten des filmischen Erzählens verschmilzt sie mit ihr. Ein berühmt gewordenes Beispiel ist der „fliegende“, „fotografierte“ Trompetenton im Stummfilm, also ohne akustische Effekte (die allenfalls die Begleitmusik im Kino hinzufügen konnte): der Ton einer Trompete dringt im Hinterhof eines Mietshauses ans Ohr des schlafenden Portiers und weckt ihn auf. Murnaus Team konstruierte für die Kamera einen Fahrkorb, der auf einer Schiene quer über den Hof etwa zwanzig Meter abwärts schnellte, um das Bild der Trompete mit dem Ohr von Jannings in einer Art Reißschwenk zu verbinden. Und in einer alkoholseligen Traumszene setzte man den Schauspieler auf eine Drehscheibe, während Karl Freund mit seiner um die Brust geschnallten Kamera den Trunkenen spielte.
Filmhistorische Bedeutung hat auch die Eingangssequenz des Films erlangt, die aus zwei Einstellungen besteht. Im ersten Bild fährt die Kamera im Hotelaufzug in die Halle hinunter und auf die Drehtür zu. Für diese Aktion hatte sich Freund mit seiner bereits vollautomatischen Kamera auf ein Fahrrad gesetzt. In der zweiten Einstellung wird die Bewegung von den schwingenden Flügeln der Drehtür übernommen; sie beherrschen das Bild und lenken unseren Blick. Am Ende dieser Einstellung ist die Tür nur noch ein Längsstreifen, der unentwegt durch das Bild wandert. Unser Interesse wird auf das gelenkt, was „draußen“ geschieht, auf der Straße, im Regen, in der großen Stadt. Die Glasscheiben werfen die Reflexe des Straßenlebens nach „innen“, ins Hotelfoyer; Menschen kommen und gehen - und es sieht so aus, als würden sie von den Flügeln der Drehtür hinaus- oder hereingeschleudert. Ein frühes und grandioses Bild für das Phänomen „Stadt“ und für die Nervosität des urbanen Lebens. Klaus Kreimeier
2001 Filmlexikon escribió:Das Schicksal eines alt gewordenen Hotelportiers zur Zeit der Jahrhundertwende in Berlin, der degradiert wird und seine ihn mit Stolz erfüllende Uniform mit der eines Toilettenwärters tauschen muss. In Murnaus herausragendem Stummfilmdrama gelingen der entfesselten" Kamera zwingende Bildsequenzen, die nur sehr sparsamer Zwischentitel bedürfen, um die seelischen Vorgänge deutlich zu machen. Ein positives Ende - der alte Mann beerbt einen in seinen Armen sterbenden Millionär - wurde Murnau aufgezwungen; er inszenierte es mit bewusst ironischer Übertreibung. Nach fast 80 Jahren kommt eine liebevoll und sorgfältig restaurierte Fassung mit neuer Musik zur Aufführung, die der Vision des Regisseurs sogar noch näher kommt als zum Zeitpunkt der Premiere. Das Ergebnis ist einer der glücklichsten Momente in der Restaurationsgeschichte, denn die neue Musik schmiegt sich den Filmszenen wie aus einem Guss an und entzieht sich den Verlockungen einer avancierten Tonsprache, ohne durch kommentierende Klischees zum inhaltsleeren Pasticcio zu verkommen. Eindrucksvoll zeigt sich, welche Ausdruckskraft eine synergetische Verbindung von Bild- und Klangsprache zu entfalten vermag.